Gestern im Studio mit C. Wir arbeiten an einem neuen Stück, das C. als Entwurf mitgebracht hat. Ein solcher Entwurf entsteht meistens mit Hilfe von gängigen Computerprogrammen, welche von den Herstellern in der Regel als eierlegende Wollmilchsau verkauft werden. Dass die Eier dieser Sau dann eher eine sehr dünne Schale haben, steht nirgends geschrieben. So erlebt gestern im Studio.
Die Idee war, einen Groove radikal reduziert mit einer Bassdrum und einem Tom aus der Rhythmus-Maschine TR-808 von Roland zu machen. Der Groove zeichnet sich dadurch aus, dass eine 808-Bassdrum und ein 808-Tom teils gleichzeitig und aber auch versetzt zueinander erklingen. Das ist an und für sich keine unglaublich neue oder speziell originelle Idee, aber die Nuancen in der Kombination der beiden sehr ähnlichen Klänge sind ein Universum. Nachdem wir die einzelnen Spuren aus C’s Musiksoftware als exakte Kopie in meine DAW (Digital Audio Workstation) übertragen haben, setze ich mich daran und suche eine brauchbare Lösung. Ich schiebe, helfe mit Anpassung von Frequenzen, justiere Einschwing- und Ausschwing-Verhalten mit Kompressoren und diversen anderen Mitteln. Eine endlose Palette von klanglichen Möglichkeiten - und dennoch finde ich nicht, was ich suche. Nie klingt das Ergebnis klanglich einfach packend, so dass ich sagen müsste «Wow!».
Die Krux ist eigentlich einfach erklärt. Diese beiden sehr ähnlichen basslastigen Klänge sind sich in den ersten Bruchteilen einer Sekunde sehr, sehr ähnlich. Erzeugt in einer Schaltung, die als «Bridged T-network» bekannt ist. Wie das genau funktioniert, ist in unzähligen Artikeln im Internet oder auch in Büchern zu finden. In dieser elektronischen Schaltung der 808 kommt ein sogenannter «Trigger» zum Einsatz, der den Klang auslöst. Wird dieser Trigger mehrfach verwendet, so wie in unserem Fall, addiert er sich innerhalb der originalen 808-Hardware und findet immer eine passende Stelle in den Schaltkreisen um quasi gleichzeitig zu erklingen – sprich: das Gehäuse mithilfe von Kabeln zu verlassen und in der realen Welt eine Membrane eines Lautsprechers zum Vibrieren zu bringen. Innerhalb einer DAW sind es exakte Kopien, die übereinanderliegend sich gegenseitig den Weg versperren, und so zu Artefakten führen, welche für unser menschliches Ohr nicht als schön empfunden werden.
Zur weiteren Veranschaulichung kann ich das Beispiel der in den 20er Bus Richtung Wankdorf ein- und aussteigenden Menschen an der Bushaltestelle Bahnhof Bern zu Hilfe nehmen. Es gleicht einem Wunder, wie die Passanten und Fahrgäste ein- und aussteigen bei diesen engen Platzverhältnissen und sogar meistens dabei ihre Freundlichkeit bewahren. Es ist nicht einfach! Und doch scheint es zu funktionieren. Auf unerklärliche Weise, zumal die Menschen hier nicht auf eine «queue up»-Tradition, wie sie in Grossbritannien bekannt ist, zurückblicken können. So ähnlich wie an der besagten Bushaltestelle in Bern stelle ich mir den Zustand in den Schaltkreisen einer TR-808 vor, wenn die Lowtoms und Bassdrums alle gleichzeitig zum Ausgang drängen und das hat dann auch etwas sehr Romantisches, ja gar etwas Menschliches.
Gestern Abend nach der end- und erfolglosen Suche einer Lösung für unseren Bassdrum-Lowtom-Groove in der weitgehend sehr unromantischen Fülle von Nullen und Einsen meiner DAW, ereilt mich eine SMS meines Freundes M. Wir beschliessen, zusammen den Club d’Essai zu besuchen und dort ein Bier zu trinken. Ich bin sehr froh, denn das ist genau das, was ich jetzt brauche.
Der Club d’Essai ist eine Veranstaltungsreihe in der Dampfzentrale Bern. Es spielen jeweils drei oder vier Musiker, welche sich oftmals kaum kennen, mit Synthesizern und Rhythmuscomputern ein improvisiertes Konzert. Also eine recht offene und im Ausgang unbestimmte Sache, welche sich mittlerweile etabliert hat und grossen Zuspruch findet. Ein Besuch lohnt sich auch für Leute, die sich mit elektronischer Club- und Experimental-Musik nicht auskennen. Manchmal ist alleine der schiere Salat an Kabeln auf vier grossen Tischen einen Besuch in der Dampfzentrale wert.
In der Dampfzentrale angekommen, bestellen wir etwas zu trinken an der Bar. Es fiept, zischt und klirrt. Geräuschhaft dringt ein dicker breiter Soundteppich an meine Ohren. Wie ein Streichorchester ohne Saiten und doch klingt es wunderlich schön. Wir hören eine Weile zu und gerade als meine Aufmerksamkeit etwas strapaziert wird und das saitenlose Orchester durch alle erdenklichen Tonarten moduliert, passiert es:
Da kommt sie. Erhaben und schön. Unglaublich oft gehört. Und doch kann ich nie genug bekommen von ihr: die Bassdrum der TR-808! Die Königin. Sie schreitet mit erhobenem Haupt und äusserst kurzer Schleppe durch den Saal. Gibt dem saitenlosen Orchester einen Rahmen. Sie regiert sanft und doch bestimmt. Sie kann sich immer durchsetzen und lässt ihre Untertanen dabei am Leben.
Erst jetzt sehe ich, dass eine originale TR-808 auf dem Tisch steht. Ich erschauere vor Ehrfurcht und nähere mich dem Objekt langsam. Ich schaue zu, wie die beiden Musiker manchmal auch gleichzeitig an ihr herumdrehen und drücken, verfolge mit meinen Ohren was passiert und ich muss sagen, es war ein Genuss!
Mein Freund M. besitzt einen Klon der TR-808. Noch in der Nacht habe ich das Gerät bei ihm geholt. M. hat mit mir mitgelitten, als ich ihm meine heutige Geschichte aus dem Studio erzählt habe. Vor lauter Erbarmen hat er mir angeboten, dass ich seinen TR-808-Klon ausleihen darf. Die Schaltkreise und Bauweise eines solchen Klons sind identisch mit dem Original. Einzig die Bauteile sind nicht mehr dieselben, was zu Nuancen im Unterschied des Klangs verglichen zum Original führt. Ich persönlich habe nie eine 808 besessen und kann mich nur auf Besprechungen im Internet stützen. Ich weiss aber eines. Selbst mit diesem Klon der TR-808 ist die Lowtom-Bassdrum-Figur, die sich C. ausgedacht hat, kein Ei mit dünner Schale. Nein! Es donnert und walzt und damit lässt sich selbst ein Orchester von zwölfsaitigen Gitarren und hunderten Blockflöten regieren.
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