Sylvia Garatti ist Schauspielerin und lebt in Bern. Für Seelenreiter gewährt sie uns Einblick in die Arbeit am Stück «Hoping for the best but expecting the worst» – ihr Probentagebuch erscheint in mehreren Teilen. Hier sind die Tage 11-16:
11. Probentag: Montag, 17. Februar 2014
Am Morgen musikalische Probe. Wir arbeiten am dritten und vierten Song weiter. Obwohl am Freitag noch alles gut geklappt hat, habe ich die Griffe teilweise vergessen und auch die Melodie nicht mehr im Kopf. War wohl nur im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert... Wie immer macht das Spielen Spass, obwohl meine Finger nach ein paar Durchgängen total verkrampft sind.
Danach szenische Probe mit Einstieg in einen neuen Text, den wir übers Wochenende hätten lernen sollen. Es klappt sosolala. Übers Wochenende habe ich auch das «Grundgefühl» eines Pinguins wieder verloren und muss es mir wieder erarbeiten. Eventuell werden wir im Zoo Zürich die morgendliche Pinguinparade besuchen. Das fände ich super!
Zum Schluss der abwechslungsreichen Probe sollen wir aus verschiedenen Kartons und einem Laubbläser eine Schneekanone basteln. Wir machen uns mit Feuereifer an die Sache und haben schon bald eine ansehnliche, trashige Schneekanone aus den Kartons gebastelt. Sie funktioniert, aber es wird zu wenig Schnee verteilt. Ein «Trichter» muss her, in den wir sehr viel Kunstschnee einfüllen können. Jürg erweist sich als begabter Bastler, dem kein Versuch zu abwegig ist. Wie Kinder sind wir ganz in unsere Aufgabe versunken und am Ende der Aktion megastolz, eine ansehnliche Kanone gebastelt zu haben. Sie sieht aus wie ein Requisit aus Robocop oder Mad Max. Ich freue mich schon darauf, sie vor Publikum einzusetzen.
12. Probentag, Dienstag, 18. Februar 2014
Auf meinen Wunsch hin darf ich mich zum ersten Mal hinter ein Schlagzeug setzen. Eventuell kann ich dann beim fünften Song Schlagzeug spielen. Es wäre cool, so Katzenjammer-mässig reihum alle Instrumente zu spielen! Mauro zeigt mir den Grundbeat, auf dem alles Weitere aufbaut. Am Anfang klappt die Koordination meiner Hände und Füsse ganz gut, aber sobald ich den Beat länger halten muss, kriege ich ein Gnuusch im Kopf und kombiniere die falschen Trommeln. Ich glaube, da verbinden sich in meinem Gehirn ganz neue Bereiche...
Hinzu kommt, dass Punk naturgemäss sehr schnell gespielt wird und alles auf dem treibenden Schlagzeugbeat aufbaut. Ich werde also viel üben müssen. Mauro will bis in zwei Wochen entschieden haben, ob ichs hinkriege oder ob er das Schlagzeug selber spielen soll. Es ist ungewohnt, mich wie eine Schülerin beweisen zu müssen, aber auch lustvoll, denn meine Spielfreude ist gross und ich bin eifrig bei der Sache.
Bei der szenischen Probe hingegen kriege ich Lines Vorgaben nicht mit den Infos zusammen, die ich von ihr zum Stück erhalten habe: Im Zusammenhang mit der Schiff-Ebene spricht sie beispielsweise häufig von «Reenactment». Darunter verstehe ich ein «Nachspielen».
Gleichzeitig sollen wir aber keine ausgearbeiteten Rollen spielen - wir arbeiten vielmehr mit Textfragmenten aus den Schiffstagebüchern einzelner Expeditionsteilnehmer. Die Texte ergeben eine Partitur und keine realistischen Dialoge. Noch bleibt für mich alles ziemlich abstrakt.
Hinzu kommt: Beim Proben entstehen dennoch Ansätze zu Szenen, welche sich anhand von Improvisationen zu kurzen Spielsequenzen entwickeln liessen. Ich habe Lust, diesen Impulsen zu folgen. Gerade in den Probenanfängen bedient man als Schauspielerin oder Schauspieler halt instinktiv einen naturalistischen Ansatz, denn da kann man sich an etwas Konkretem orientieren und auch festhalten.
Im Moment hänge ich im Probenprozess also gerade irgendwo zwischen Ausführung und Eigenkreation fest und tappe im Dunkeln. Line und Lisa scheinen bereits Wirkung zu sehen, welcher ich mir nicht bewusst bin. Ich hingegen brauche Feedback und «Spielfutter», um ein Gespür dafür zu entwickeln.
Was mich dranbleiben lässt, ist einerseits das Vertrauen, das ich in Lines Integrität habe und andererseits der Eindruck, dass sie eine klare Vision verfolgt. Ich versuche, mich dem anzuvertrauen und ihr zu folgen, trotz meiner Zweifel. Und ich verlasse mich auf die Grundansage, dass sich beim Stück alles um das Thema Scheitern dreht – insofern bin ich voll auf Kurs, denn ich scheitere quasi in jeder Probe: an der Aufgabenstellung, meinen Ansprüchen und mir selber...
13. Probentag, Mittwoch, 19. Februar 2014
Line und Mauro haben Big News für uns: Der gesuchte Deus Ex Machina für unser Stück hat sich gemeldet! Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten.
15. Probentag, Freitag, 21. Februar 2014
Mauro und Rolf haben entschieden, dass ich beim fünften Song nun doch nicht Schlagzeug spielen, sondern singen soll. Schade! Dennoch soll mir der Entscheid recht sein, denn hinter dem Mikrofon fühle ich mich wohl. Nur um das Schlagzeugspielen tut es mir leid, denn ich werde nicht so schnell wieder Gelegenheit haben, mich an einem auszuprobieren.
Heute führen wir beim Spielen verschiedene Elemente zusammen: Nach der gelungenen musikalischen Probe sollen wir zum ersten Mal unsere Instrumente als Pinguine bedienen. Das ist anspruchsvoll, denn ich muss beim Spielen noch auf die Saiten schauen, was nun nicht mehr möglich ist. Dementsprechend greife ich daneben. Mauro ists egal, Hauptsache, der Punk-Groove stimmt.
Line macht mit uns eine Übung, die uns den Wechsel zwischen uns als Privatperson und der «Personnage» als Pinguin erleichtern soll. Es hilft und es zeigt sich, dass es bewegungsmässig gar nicht so viel braucht. Es ist vielmehr eine Frage der inneren Einstellung, also ob ich mir den Pinguin selber glaube. Es ist immer wieder erstaunlich, wie dieser Aspekt alles verändert! Langsam keimt Hoffnung auf, dass ich beim Spielen wieder auf Kurs bin.
Das kommt zum richtigen Zeitpunkt, denn Jürg wird nun eine Woche weg sein. Und da wir im Stück immer alle auf der Bühne sind, gibt es für uns als Kollektiv vier Tage Probenpause.
16. Probentag, Montag, 24. Februar 2014
Heute habe ich eine Einzelprobe. Wir proben den Brief, den Sir Ernest Shackleton seiner Frau nach Hause geschrieben hat. Ich freue mich darauf und finde es super, dass Line die «Frauen-Ebene» ins Stück aufgenommen hat.
Inwiefern bin ich beim Sprechen Sir Shackleton und inwiefern seine Frau Emily, die sich an den Wortlaut des Briefes erinnert? Vieles ist möglich, und jeder Probendurchgang fördert weitere Möglichkeiten zutage. Es macht Spass, und ich mache viele Spielangebote. Ich fühle mich in meinem Element.
Danach erläutern mir Line und Lisa den Gesamtablauf und die Dramaturgie des Abends. Ich verstehe dadurch noch besser, welche Szene sich aus der vorherigen ergibt und wann die Spielebenen wechseln.
Ihre Rückmeldungen zeigen mir, wo sich bereits etwas von der Körperarbeit auf die Zuschauenden überträgt und wo ich weiterforschen kann. Nachdem ich unsicher gewesen war, ob wir uns für mich wirklich das richtige Tier ausgesucht haben (Jürg ist übrigens felsenfest davon überzeugt, dass ich ein Storch «bin») , bin ich nun motiviert, hier weiterzumachen. Ich werde mir ein paar Dokfilme ansehen, um das Tier genauer kennenzulernen.
Insgesamt war es eine sehr erfreuliche Probe und ein guter Abschluss für eine fast probenfreie Woche. Ich freue mich auf das kommende Weekend, wenn wir alle wieder zusammentreffen werden.
«Hoping for the best but expecting the worst» – eine szenische Prophylaxe von eberhardgalati
Aufführungen: 26./27.3., 2./3.4., 9./10.4. Helsinki-Klub Zürich
Spiel: Mauro Galati, Jürg Plüss, Sylvia Garatti
Musik/Technik: Rolf Näpfer
Regie: Line Eberhard
Musikalische Leitung: Mauro Galati
Dramaturgie/Regieassistenz: Lisa Letnansky
Produktionsleitung: Josefine Stähli
Ausstattung: MatterLüchinger
Licht: Josef Busta, Lola Rosarot
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